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urbanism
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jungle-world 2003 von friederike meyer (text) und torsten seidel (fotos)
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submitted by
Martin Luce
submitted on
2003-10-02
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prora.allinclusive
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instItut für raumFRagen
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Viel Raum wenig Volk
Kunststudenten belagerten die Ferienanlage des KdF-Bades Prora einen Sommer lang.
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prora.allinclusive
instItut für raumFRagen
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Kurz nach sieben schallt eine Stimme aus dem Megaphon über die vertrockneten Wiesen vor dem Haus. Niemand ist zu sehen. Aus den scheibenlosen Fenstern im fünften Stock hängen rote Socken. Irgendwo dudelt Radiomusik. Töpfe klappern. Gelächter. Eine junge gut aussehende Frau in bunt bedruckter Dederon-Kittelschürze und Badelatschen schlurft zu einem der beiden Dixiehäuschen im Hof: »Es gibt gleich Essen, kommt ihr auch?«
Jeden Abend sitzen die Teilnehmer von prora.allinclusive gemeinsam am großen selbstgezimmerten Küchentisch. Es sind junge Künstler aus ganz Europa, Mexiko und Hongkong. Viele von ihnen studieren noch, Design, Bühnenbild, Architektur, Grafik. In der Ruine des ehemaligen KdF-Bades Prora auf der Ostseeinsel Rügen leben und arbeiten sie nun schon seit drei Wochen.
»Das Tolle ist, dass wir ohne Ende Platz haben.« Martin Luce hat Erfahrung mit dem temporären Bewohnen von verlassenen Gebäuden. Im vergangenen Sommer zog er für drei Monate mit 50 anderen Kunststudenten in ein leer stehendes Plattenbauhochhaus in Berlin-Hellersdorf. Die Aktion dostoprimetschatjelnosti hat damals viel Aufsehen erregt. Sie hat nicht nur das Image der Platte verbessert, sondern auch dem viel diskutierten Begriff der Zwischennutzung ein positives Praxisbeispiel hinzugefügt.
Diesen Sommer also Prora. Wie die Plattenbauten so erzeugt auch der Name Prora bei vielen Menschen noch immer ein Gefühl des Unbehagens. In DDR-Zeiten war das Gelände militärisches Sperrgebiet. Seit 1991 steht die gigantische 4,5 Kilometer lange Anlage, die in den dreißiger Jahren von Hitler als Ferienanlage für 20 000 Urlauber geplant war, leer. Sommerurlauber kommen allerdings mittlerweile in Scharen mit ihren Schwimmenten und Luftmatrazen, denn hinter dem »Koloss von Rügen«, wie er mit Superlativen touristisch vermarktet wird, befindet sich der schönste Strand der Insel. Im Zentrum der Anlage, wo eine riesige Festhalle geplant war, aber wegen des beginnenden Kriegs nicht mehr gebaut wurde, wurden in den ehemals als Kaserne genutzten Räumen ein paar Museen der Geschichte des Ortes eingerichtet. Fressbuden gesellten sich hinzu. Maler verkaufen ihre Bilder.
Im Abschnitt V weiter nördlich ist von dicken nackten Bäuchen, Bockwurst und Souvenirverkauf nichts zu sehen. Ab und zu bleiben Fahrradfahrer vor dem Schaukasten stehen, in dem sich die Teilnehmer von prora.allinclusive der Öffentlichkeit vorstellen. Der Projekttitel klingt wie die Ankündigung in einem Pauschalreisekatalog. Doch mit den Lebensbedingungen hier hat das nichts zu tun. Der Gebäudeabschnitt gleicht einer Ruine: keine Türen, keine Fenster. »Das hat uns inspiriert.« Die fünf Hamburger Studenten vom Institut für Raumfragen, die mit Hilfe der Hamburger Hochschule für bildende Künste prora.allinclusive organisiert haben, sehen diese Art von Sommerakademie in der Tradition des so genannten Art Squatting, der pragmatischen Nutzung von Leerstand durch Kunstproduzenten. »Wir wollten internationale Leute verschiedener Studienrichtungen zusammenbringen. In den Räumen der Uni geht das nicht, dort sind die Strukturen so beamtenmäßig. Außerdem geht es ja um das gemeinsame Wohnen unmittelbar dort, wo auch unsere Projekte entstehen.« Um eine Gruppe zusammenstellen zu können, haben sie um eine Postkarte gebeten, als Bewerbung sozusagen. Ganze 90 Einsendungen kamen ? übernähte durchlöcherte Pappe, Fotografien, ein beschriebenes Stück Verpackung. Dreißig haben sie ausgewählt. »Die Gruppe sollte überschaubar bleiben. Um Enttäuschungen vorzubeugen, wurde in einer zweiten Runde nach den Erwartungen an das Projekt gefragt. Einer antwortete schlicht: 22o Volt. Wir wussten: Der hat die Idee verstanden.«
Im Gang liegen leere Bierflaschen und zwei kaputte Fahrräder. Den Treppenaufgang zu ihrem Bereich haben sie mit einer Gittertür versperrt. Zwischen den Drähten hängt ein Fahrradnummernschloss. Sebastian ist mit den anderen vom Organisationsteam schon zwei Wochen früher gekommen, um ein Minimum an Infrastruktur bereit zu stellen. »Sie haben uns zwei Baustromverteiler gegeben, auf den Gängen haben wir acht bis zehn Verteilerdosen in Reihe geschaltet, so hat jedes Zimmer einen Anschluss. Wasser kommt aus den Hähnen unten vorm Haus. Von dort haben wir Gartenschläuche verlegt. Der Rest wird in der Ostsee erledigt.«
Das eigene Zimmer hat sich jeder selbst gesucht. Alte NVA-Betten gab?s für alle, dazu DDR-Schulbänke und Stühle. Ansonsten musste man mit dem auskommen, was im Haus so herumliegt. Noch nie in seinem Leben habe er ein schöneres Zimmer bewohnt, erklärt Johannes und winkt uns durch das türlose Loch in der Wand. »Es ist wie direkt in der Natur.« Der Wind pfeift durch die Öffnungen. Hinter dem Kiefernwäldchen rauscht die Ostsee. Während vor den anderen Eingängen Decken hängen oder Folien, hat Johannes eine neue Wand gebaut, um die man herumlaufen kann und in der er gleichzeitig seine Klamotten stapeln kann. Auf dem Betonboden steht ein Bett, sonst nichts. Johannes hat die Idee für prora.allinclusive mitentwickelt. Er ist ein charmanter Gasteführer und zeigt uns das Haus.
»Today at 8 pm I will show my viedeo on the third floor«, steht auf einem der Zettel an der Wand. »Immer wenn jemand etwas präsentieren möchte, einen Film, ein Theaterstück, Installationen oder Performances, sagt er einfach Bescheid.« Hedwig, Martine und Hans, die drei Architekten aus Holland, müssen heute nicht viel sagen, denn der Geruch von verbranntem Holz kriecht allen in die Nase. An die Eröffnung ihrer Bäckerei haben nur wenige geglaubt. Aber von ihrer Idee, im Haus einen funktionierenden Ofen zu bauen, waren sie nicht abzubringen. Wie in einer mittelalterlichen Gasse hängt vor der Türöffnung am langen Gang ein Ladenschild: »Prora-Bäckerei«. Mit weißen Bäckermützen auf dem Kopf schieben sie große Äste in die Feueröffnung ihres Ziegelofens ? entstanden aus Materialien, die sie in der Nähe des Hauses gefunden haben. Dann wird der Teig ausgerollt, in kleine Rechtecke geschnitten und verziert. Als das fertige Blech aus dem Ofen kommt, wird uns der frische Prora-Keks zur Verkostung gereicht. Die Teile sind Miniaturelemente der Gebäudefassade. Wir knabbern also das Haus.
»Ihr könnt hier schlafen, wenn ihr wollt. Wir haben ein Gästezimmer, ist sogar eine Tür dran und ein weiches großes Sofa steht drin.« Johannes führt uns zur »Präsident Suite« ? der Hamburger Hochschulpräsident soll kommende Woche darin übernachten. An der Wand hängt das Fragment eines Strandkorbes, eine Lichterkette ist drumherum geschlungen. In den Fenstern klebt rote Folie. »Heute abend ist Karaoke-Party, vor 4 Uhr morgens werdet ihr bestimmt nicht schlafen können, denn der Partyraum liegt hier schräg oben drüber.«
Der Spaziergang durchs Haus gleicht dem Besuch in einer kleinen Stadt. Hinter einem Maschendraht gackern drei Hühner, die Annabel aus Karlsruhe mitgebracht hat. Stuhl und Bett im »Krankenzimmer«, einer weiteren Rauminstallation, stehen in zwei Zentimetern Meerwasser, das soll beruhigend wirken; nebenan kann man sich im »aggression room« an einem Sandsack austoben. Dann ist es wieder wie im Kinderferienlager: lautes Lachen auf dem Gang. Thomas? ferngesteuertes Auto hat sich gerade überschlagen. Er hat es mit Pappmaschee verkleidet und angemalt und lässt es auf dem 60 Meter langen Gang hin und her rasen. Marike sitzt vor ihrer Nähmaschine und schneidet weißen Stoff zu. »Jeder bekommt eine Hose, unsere Prora-Uniform.« Eine Truppe mit Handtüchern und Sonnenbrillen im Haar rauscht vorbei. »Wir gehn nochmal zum Strand.« Aus dem Partyraum, der »Tanztaverne Boddenblick«, dringt schon schräges Gejohle, untermalt von Hits aus den achtziger Jahren. Das allabendliche Feiern nimmt seinen Lauf. Im Büro werden E-Mails geschrieben und die Erlebnisse des Tages auf der Website mitgeteilt. Keiner stört sich am Krach.
Mittlerweile ist es vier Uhr morgens und es ist wie im Film. In der »Depression Bar« brennt eine Funzel. Rosie hockt im Fensterrahmen und liest Sartre. Neben ihr geht es acht Meter abwärts. Jurate blättert im Spiegel. Sie kommt aus Vilnius und versteht kaum Deutsch. Aber das ist egal. Es geht um die Stimmung, die gerade herrscht, für das Traurigsein ist die Installation gemacht und jetzt wird sie gerade benutzt. Die anderen hocken auf dem umgeklappten Bettgestell, rauchen und trinken Bier. Schlager von der Küste dudeln aus dem Kofferradio. Der kurzzeitige Stromausfall bringt niemanden aus der Ruhe.
Der nächste Morgen beginnt am Strand. Sechs nackte Gestalten wüten im Sand, laufen um die Wette und kämpfen mit Ästen. Auf dem Boden liegt Katja und gibt Anweisungen. »Halt, ich muss ?nen neuen Film einlegen, kommt nochmal von da hinten auf mich zu.« Die Männer sind braun verschmiert und tragen Kriegsbemalung. Wir sind Zeugen einer Fotosession, die sich Leni Riefenstahls Nuba-Porträts zum Vorbild genommen hat, erfahren wir später.
Im Haus geht es noch ruhig zu. In dem Becher am steinernen Waschtrog stecken etwa zwanzig Zahnbürsten. Die Familienpackung Cornflakes auf dem Küchentisch ist leer. Löffelklappern in Müslischüsseln, verschlafene Gesichter, das Röcheln der Kaffeemaschine. Schnelle Schritte unterbrechen das langsame Erwachen. Vor dem Haus laute Stimmen: »Schnell, nimm das Fahrrad. Nein das schaffst du nicht, musst schon das Auto nehmen.« Urs springt in den Bus und saust davon. Fassungslos schauen die anderen einer Traube aus orangenfarbenen Luftballons hinterher, die immer höher in den Himmel steigt. Daran ist eine Videokamera befestigt, die Bilder aus der Luft vom Haus machen sollte. Die Leine ist gerissen. »Das können wir jetzt vergessen, wenn wir Glück haben, landet sie irgendwo in Holland.«
Prora.allinclusive ist Mitte August zu Ende gegangen. Die Hinterlassenschaft der Künstler ist für die Öffentlichkeit leider nicht zugänglich, denn das Gebäude bleibt vorerst abgesperrt. Das Jugendherbergswerk von Mecklenburg-Vorpommern hat jedoch geplant, die Ruine als Jugendhotel auszubauen ? vielleicht nimmt es sich bei der Konzeption ja an der Gruppe ein Beispiel.
Dostoprimetschatjelnosti in Berlin und prora.allinclusive auf Rügen werden nur der Anfang einer Reihe von temporären Nutzungen leer stehender Gebäude sein. Und das ist gut so, für das Entwickeln von neuen Ideen, für die Belebung tot geglaubter Ecken, für den Umgang mit dem Leerstand. In Halle-Neustadt zum Beispiel haben Jugendliche diesen Herbst das Hotel Neustadt eröffnet, für zwei Wochen in einem ehemaligen 18-stöckigen Studentenwohnheim. Man muss sie nur machen lassen, die Zwischennutzer.
Das im Auftrag der Nationalsozialisten von dem Architekten Clemens Klotz entworfene Ferienbad Prora auf Rügen sollte 20 000 »Volksgenossen« für einen zehntägigen Pauschalurlaub mit Betreuung aufnehmen. Weiterhin sollten Zimmer mit Blick aufs Meer sowie eine Festhalle für 20 000 Menschen entstehen. Mit Kriegsbeginn wurden die begonnenen Arbeiten eingestellt.
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